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20. Der Kordon

 

Septimus

Es war Nacht geworden, während Septimus, abgeschnitten von der Außenwelt, in der Sicherheitskammer gewesen war. Er trat hinaus in die kalte, klare Luft und eilte die Schlangenhelling hinauf. Septimus zog den Mantel enger und schritt kräftig aus, um die Kälte abzuschütteln, die ihm in den Knochen steckte. Am Ende der Helling bog er in den Rattenlauf ab, eine ausgetretene Gasse, die direkt zur Mitte der Zaubererallee führte.

Die Längste Nacht zählte zu seinen Lieblingsfesten im Jahr. Schon als Soldat der Jungarmee hatte er sich immer darauf gefreut. Obwohl er damals nicht ahnen konnte, dass er an diesem Tag auch Geburtstag hatte, war dieses Ereignis für ihn etwas ganz Besonderes. Für sein Leben gern sah er all die Kerzen in den Fenstern der Burg. Dem Obersten Wächter und seinen Spießgesellen war dieser Brauch zwar ein Dorn im Auge, doch so alt, wie er war, konnte man ihn nicht verbieten, und er war zu einem kleinen Symbol des Widerstands geworden. Diese besondere Bedeutung kannte der junge Septimus freilich noch nicht. Er wusste nur, dass ihn die Lichterpracht glücklich machte.

Doch inzwischen hatte die Längste Nacht für ihn noch eine viel größere Bedeutung: Sie war ein Symbol der Hoffnung und der Erneuerung, der Jahrestag seiner Befreiung aus der Jungarmee durch Marcia. Trotz der Aufgabe, die heute in dieser Nacht vor ihm lag, hatte er das vertraute Gefühl von Erregung und Vorfreude, als er durch den Rattenlauf ging. Ein paar kalte, nasse Schneeflocken ließen sich kurz auf seinem Gesicht nieder, als er lächelnd an den alten Häusern hinaufschaute, in deren Fenstern jeweils eine einzelne helle Kerze brannte. Er sog die frische Luft ein, schüttelte die süßlichen Dämpfe aus dem Haus des alten Alchimisten aus seinen Kleidern und schob die Gewissensbisse wegen Marcia beiseite, die in seinem Besuch bei Marcellus, wie er wusste, einen Treuebruch sah.

Er war fest entschlossen, das zu tun, was er für richtig hielt. Heute war sein vierzehnter Geburtstag – ein Tag, der überall in der Burg als Schritt in die Selbstständigkeit anerkannt war. Er war kein Kind mehr. Jetzt war er sein eigener Herr und traf seine eigenen Entscheidungen.

Ein paar Straßen entfernt begann die Turmuhr im Tuchhändlerhof zu läuten. Septimus zählte sechs Schläge und beschleunigte seine Schritte. Er kam zu spät. Dabei hatte er versprochen, um sechs bei seiner Mutter zu sein.

Als Septimus eilig in die Zaubererallee einbog, bot sich ihm jedoch ein etwas anderes Bild, als er erwartet hatte. Die Allee war zwar voller Menschen, wie immer in der Längsten Nacht, doch statt wie sonst auf und ab zu schlendern, sich angeregt zu unterhalten und auf die interessanteren Fenster zu zeigen (denn in den letzten Jahren war zwischen den Ladenbesitzern ein ernster Wettstreit um das schönste Schaufenster entbrannt), standen die Leute reglos da und blickten zum Palast. Dies allein war schon seltsam genug, doch was Septimus vollends bedenklich stimmte, war die angespannte Stille.

»Ich wundere mich, dass Sie nicht mit dabei sind, Lehrling«, sagte eine Stimme hinter ihm. Bei dem Wort »Lehrling« drehten sich mehrere Köpfe nach Septimus um.

Er schaute sich um und sah Maizie Smalls, die hinter ihm stand. Sie machte ein besorgtes Gesicht. »Ich meine, bei dem Kordon um den Palast«, präzisierte sie.

»Ein Kordon? Um den Palast?«

»Ja. Ich hoffe nur, meinem Kater geht es gut. Binkie ändert nur äußerst ungern seine Gewohnheiten. Er ist alt geworden, verstehen Sie, und da ...oh ...«

Septimus war weg, er war auf dem Weg zum Palast. Er kam schneller durch die Menge, als er erwartet hatte. Sobald die Leute erkannten, dass es der Außergewöhnliche Lehrling war, der an ihnen vorbeidrängte oder ihnen auf die Zehen trat, machten sie respektvoll Platz – alle bis auf Gringe, der ihn festhielt und knurrte: »Jetzt aber dalli, dalli, Junge. Etwas zu spät dran, wie?« Doch er ließ ihn los, als Lucy protestierte: »Lass das, Dad. Siehst du denn nicht, dass er in Eile ist?«

Septimus warf Lucy einen dankbaren Blick zu und hastete weiter. Im Gehen entdeckte er Nicko, der mit Rupert, Lucys Bruder, sprach. Aber er hatte jetzt keine Zeit, ihm Hallo zu sagen. Er musste so schnell wie möglich zum Palast.

Als er am Palasttor ankam, sah er, dass Gringe recht gehabt hatte. Er kam tatsächlich zu spät. Auf dem Rasen, ein paar Meter hinter dem Tor, war der Kordon bereits errichtet: eine lange Kette von Zauberern, Lehrlingen und Schreibern hatte den Palast umstellt, wobei jeder ein lila Seil in der Hand hielt, das ihn mit seinen Nachbarn zur Rechten und Linken verband. An der Reglosigkeit und Konzentration der Beteiligten merkte Septimus, dass der Kordon vollendet war.

Es war das erste Mal, dass er einen richtigen Kordon sah, obwohl im Hof des Zaubererturms gelegentlich welche geübt wurden und ein paar Lehrlinge einmal – zu Gringes Ärger – aus Spaß einen um das Nordtor gezogen hatten. Im Idealfall hielten sich diejenigen, die den Kordon bildeten, an der Hand wie Kinder bei dem beliebten Spiel »Ringelreihen um den Zaubererturm«. Doch um eine Kette um das größte Gebäude in der Burg bilden zu können, musste jeder ein Stück leitfähige, magische Schnur zu Hilfe nehmen, wie es alle Zauberer, Lehrlinge und Schreiber stets bei sich trugen.

Septimus stand vor der stummen Menge der Zuschauer, betrachtete den Kordon und versuchte zu verstehen, was hier vorging. Bei einem Zauber abseits zu stehen war für ihn eine neue, ungewohnte Erfahrung, die ihm ganz und gar nicht gefiel. Bald jedoch dämmerte ihm, dass er noch einmal Glück gehabt hatte. Wäre er nämlich nur ein paar Minuten früher zur Stelle gewesen, hätte Marcia darauf bestanden, dass er an dem Kordon mitwirkte, und mit dem Dunkelschleier in seiner Geheimtasche hätte er das nicht gewagt. Die Erleichterung darüber, dass er Marcia keine Erklärung geben musste, versöhnte ihn beinahe damit, dass er einen Zauber von historischer Bedeutung versäumte – aber nur beinahe.

Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich die Sache aus der Nähe anzusehen. Er schlüpfte durch das Tor und ging langsam über den Rasen. Im Näherkommen sah er, dass innerhalb des Kordons vier Gestalten auf den Palasteingang zueilten. Eine war natürlich Marcia. Die zweite war Beetle, was ihm einen Stich versetzte, der wohl von Eifersucht herrührte. Beetle nahm den Platz ein, der eigentlich ihm gebührte. Zwei weitere Personen liefen hinter ihnen her. Die eine war mit ziemlicher Sicherheit Hildegard. Die andere eine Hexe. Was ging hier vor?

Septimus war zur Sicherheit in einer Entfernung vom Kordon stehen geblieben. Aber offensichtlich hatte er etwas vor sich hin gemurmelt, denn eine Person aus der Kette drehte sich um. Es war Rose, das Lehrmädchen aus dem Krankenrevier. Sie lächelte ihn an und legte den Zeigefinger auf die Lippen.

»Was ist hier los?«, formte Septimus tonlos mit den Lippen. Rose zuckte mit den Schultern und zog eine Grimasse, die ich habe keine Ahnung bedeuten sollte.

Septimus war völlig verwirrt. Tausend Fragen schössen ihm durch den Kopf. Was war geschehen – hatte Silas eine Dummheit begangen? Wo war Jenna? Wo waren seine Eltern? Und dann kam ihm ein schrecklicher Gedanke: Hatte das alles mit der Sache auf dem Dachboden zu tun, der nachzugehen ihn Jenna gestern Abend gebeten hatte? War das alles seine Schuld?

Er ging außen um den Kordon herum. Es war kalt, und ein paar Schneeflocken fielen, landeten auf den Wintermänteln der Zauberer und Schreiber oder blieben kurz auf Wollmützen und unbedeckten Köpfen liegen, ehe sie schmolzen. Die Hände, die die Seile hielten (Handschuhe waren nicht erlaubt, da sie den Kontakt unterbrachen), waren bereits von der Kälte gerötet, und einige von den jüngeren Lehrlingen, die in der Aufregung ohne Mantel ins Freie gerannt waren, bibberten.

Im Gehen behielt Septimus den Palast im Auge und versuchte, sich an das zu erinnern, was Jenna gestern Abend zu ihm gesagt hatte. Da oben geht etwas Schlimmes vor. Das war alles, was ihm noch einfiel. Doch er hatte ihr auch gar keine Gelegenheit gegeben, mehr zu sagen.

Auf der Suche nach Hinweisen darauf, was hier geschah, ließ er den Blick über den Palast wandern. Er sah aus wie immer, ein Hort der Verlässlichkeit und des Friedens in dieser Winternacht. Doch dann stach ihm etwas ins Auge. In einem Fenster im Obergeschoss verlosch eine Kerze. Er blieb hinter einer Reihe älterer Zauberer stehen, die alle möglichen bunten Schals und Wollmützen trugen, und spähte zu den Palastfenstern hinauf. Wieder ging eine Kerze aus und dann noch eine. Eine nach der anderen wurde gelöscht, wie Dominosteine, die klick, klick, klick langsam umfielen. Da wusste Septimus, dass Jenna recht gehabt hatte – da oben ging etwas Schlimmes vor sich.

»Du wolltest Jenna nicht helfen, weil du dir unbedingt den Kopf für deine Schwarzkunstwoche freihalten wolltest, du Blödmann, und jetzt sieh dir an, was passiert ist«, sagte er wütend zu sich selbst. »Und dann gehst du in die Alchimistenkammer, obwohl Marcia ausdrücklich dagegen ist, und fehlst deswegen jetzt bei dem erstaunlichsten Zauber, den du wahrscheinlich in deinem ganzen Leben zu sehen bekommen wirst. Das hast du nun davon, dass du den Dunkelkräften zu nahe gekommen bist, du Schwachkopf. Sie bringen dich dazu, nur noch an dich selbst zu denken. Und entfernen dich von den Menschen, die du gern hast. Jetzt hast du niemanden mehr, mit dem du reden kannst, und das geschieht dir ganz recht.«

Septimus kehrte dem Kordon und seinen Zaubererkollegen den Rücken und ging in die Nacht hinaus in Richtung Fluss. Er hatte das Ufer erreicht und lief auf den Landungssteg des Palastes zu, als ihm plötzlich der Geist von Alice Nettles erschien. Seit Althers Verbannung zeigte sich Alice eigentlich keinem Lebenden mehr, doch für Septimus machte sie eine Ausnahme. Von allen Geistern, die Septimus kannte, war Alice der einzige, der wetterempfindlich zu sein schien, und heute Abend sah sie ganz verfroren aus, obwohl er wusste, dass sie die Kälte eigentlich nicht spüren konnte.

»Guten Abend, Alice«, grüßte er.

»Guten Abend, Septimus«, antwortete sie mit einer entrückten Stimme, und zum ersten Mal überhaupt streckte sie die Hände nach einem Lebenden aus, legte sie Septimus auf die Schultern und sagte: »Bring meinen Alther zurück, Lehrling. Bring ihn mir zurück.«

»Ich werde mir alle Mühe geben, Alice«, erwiderte Septimus, verwundert über die Kälte ihrer Berührung.

»Wirst du heute Nacht aufbrechen?«, fragte sie.

Der Schlüssel zum Verlies Nummer Eins, in dem seine Schwarzkunstwoche beginnen sollte, lag schwer in seiner Tasche. Doch der Kordon hatte alle seine Pläne ins Wanken gebracht. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was passiert war oder was Marcia um Mitternacht tun würde. Er zögerte.

Alice sah ihn angstvoll an. »Du antwortest nicht, Lehrling.«

Septimus sah das Leid in ihren Augen und traf eine Entscheidung. Er mochte Jenna im Stich gelassen haben, aber Alice würde er nicht enttäuschen. Er würde in das Verlies Nummer Eins hinabsteigen, ob Marcia dabei war oder nicht. »Ja, Alice. Ich werde Alther holen.«

Zaghaft legte sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. »Ich danke dir«, sagte sie. »Ich danke dir von ganzem Herzen.«

Alice wanderte auf den Landungssteg hinaus und blickte verträumt auf den Fluss, und Septimus setzte langsam seinen Weg am Ufer fort und tauchte in die Dunkelheit ein. Nie zuvor, nicht einmal in der Jungarmee, hatte er sich so einsam gefühlt. Er erkannte, wie sehr er sich daran gewöhnt hatte, immer im Mittelpunkt zu stehen und eine feste, tragende Rolle im magischen Leben der Burg zu spielen. Und nun, da er mit einem Mal aus dem Kreis der Zauberer ausgeschlossen war – im buchstäblichen Sinne –, fühlte er sich verlassen.

Er stapfte durch das hohe Gras am Ufer, und neben im strömte lautlos der Fluss, dunkel und kalt. Kleine Schneeflocken rieselten vom Himmel und legten sich auf seinen dicken Wollschal, und die gefrorenen Grashalme knackten leise unter seinen Füßen. Im Gehen spürte er die Gegenwart des Palastes, der sich zu seiner Linken erhob. Wie der Schauplatz eines schlimmen Unfalls zog er seine Blicke an. Und jedes Mal, wenn er ängstlich hinschaute, sah er, wie sich abermals ein Fenster verfinsterte, und musste daran denken, dass Jenna womöglich noch irgendwo da drin war und in der Falle saß.

Er ging weiter am Ufer entlang, überzeugt, dass er das, was jetzt im Palast geschah, hätte verhindern können. Wenn er Jenna doch nur geholfen hätte, als sie ihn darum bat. Jetzt war es zu spät. Jenna war nicht hier, und er war auf sich selbst gestellt – und selbst für sich verantwortlich.

Er gelangte an das Tor, das durch die hohe Hecke auf die Drachenwiese führte. Er öffnete es. Nun hatte er nur noch einen Freund, mit dem er sprechen konnte – seinen Drachen, Feuerspei.

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